Von der Chimäre BIP und normativen Blindflügen

MCC-Gruppenleiter Matthias Kalkuhl und der Diplomtheologe Jonas Hagedorn setzen sich in einem Blogeintrag für Gesellschaftsindikatoren jenseits des BIP ein.

26.09.2016

„Bis heute lassen sich in aktuellen Diskursen auffallend viele Meinungsbekundungen finden, in denen politische Ziele wie Ungleichheitsreduktion, Lohnerhöhung, Steueranhebung oder Umweltschutz mit dem Verweis auf negative Wachstumsfolgen abgelehnt werden. Zudem findet das BIP nach wie vor ungebremste Verwendung als Indikator für Wohlstand und Entwicklung in Modellen und empirischen Studien.“

Das kritisieren Matthias Kalkuhl, Leiter der Arbeitsgruppe Wirtschaftswachstum und menschliche Entwicklung am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) und Jonas Hagedorn, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen/Frankfurt am Main in einem neuen Beitrag für den Blog „postwachstum“.

Um valide Aussagen darüber zu treffen, wie sich eine Wirtschaft entwickle, sei demnach das BIP nur ein Indikator unter vielen. Auf gesellschaftlich relevante Fragen, etwa dem Stand der sozialen Wohlfahrt, könne das BIP keine Antwort geben. „Die Ökonomie ist sich längst bewusst, dass es keine tragfähige theoretische Grundlage für das BIP als Indikator für soziale Wohlfahrt oder gesellschaftlichen Wohlstand gibt, dennoch ist es in zahlreichen Modellen und Untersuchungen die wichtigste ökonomische Referenzgröße. Statt um die Wachstumsfrage, muss es jedoch darum gehen, wie wir als plurale Gesellschaften mit verschiedenen Vorstellungen vom „guten Leben“ fähig werden, Zielkonflikte zu lösen“, schreiben die Autoren.

Die beiden Wissenschaftler schlagen vor, dass ökonomische Modelle zu wirtschaftspolitischen Fragen weder starr einer bestimmten normativen Parameterkonstellation folgen noch normative Grundannahmen in Gleichungen oder Fußnoten verstecken sollten. Stattdessen sollten sie versuchen, ein Spektrum an gesellschaftlichen Wertvorstellungen abzubilden. „Dies würde einerseits die Wirtschaftswissenschaften wieder in die moralphilosophische Tradition ihrer Gründerväter stellen. Andererseits könnte eine explizite „Normativierung“ dabei helfen, die gesellschaftliche Debatte um Werte und Normen von der innerdisziplinären Diskussion um Methoden zu trennen und dem allgemeinen Glaubwürdigkeitsverlust der Volkswirtschaftslehre entgegenzuwirken.“